851-0101-72L  Moderne Grossstadt und Kulturkritik. Das "Wissen vom Leben" in den Reformbewegungen 1880-1933

SemesterHerbstsemester 2019
DozierendeS. S. Leuenberger
Periodizitäteinmalige Veranstaltung
LehrspracheDeutsch


KurzbeschreibungDie Vorlesung widmet sich der Theorie und Praxis der „Lebensreform“, die heutigen Reformaufrufen in den Bereichen Ernährung, Klimaschutz und Städtebau vorausging. Die Bewegung entstand um 1880 aufgrund der raschen Urbanisierung in Mitteleuropa, die im Bürgertum und bei der Jugend zu einer radikalen Kulturkritik führte. Sie vereinte Vertreter ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Positionen.
LernzielDie Studierenden lernen die Vorläufer heutiger Alternativkonzepte in den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Städtebau und Ökologie in der Generation um 1900 kennen. Die Historisierung der heutigen Konzepte ermöglicht es, Zukunftsentwürfe mit früheren Versuchen und den Erfahrungen daraus abzugleichen, den Blick für eventuelle Sackgassen zu schärfen und die Diskussion darüber zu versachlichen.
InhaltDie großstadtkritische und kulturpessimistische Haltung, die um 1880 in Teilen des Bürgertums und der studentischen Jugend in Deutschland entstand, gipfelte in der Vorstellung, der übersteigerte Fortschrittsoptimismus werde in die Katastrophe führen: Es drohe die "Selbstzersetzung des Menschentums" (Klages). Ein breites Spektrum an Reformbewegungen medizinisch-hygienischer, sozialpolitischer und weltanschaulicher resp. religiös-spiritueller Ausrichtung entwickelte sich, die auf die körperliche und seelische Gesundung des Menschen abzielten. Sie waren für Deutschland und die Schweiz spezifisch und lassen sich unter dem Begriff "Lebensreform" zusammenfassen. Dazu zählen Naturheilbewegung, Kleidungsreform und Freikörperkultur, Ernährungsreform und Vegetarismus, Jugend- und Frauenbewegung, Sexualreform und Landkommunenbewegung, biologischer Landbau, Bodenreform, Genossenschafts-, Freiland- und Gartenstadtbewegung, Natur- und Heimatschutz, Reformpädagogik und Landerziehungsheimbewegung, Kunsterziehung und rhythmische Erziehung, Ausdruckstanz, Theaterreform, Heimatliteratur und Heimatkunstbewegung, Anthroposophie, die Entstehung deutschchristlicher und deutschgläubiger Gruppierungen, religiöser Sozialismus und Jüdische Renaissance.

Damit wird deutlich, dass das Reformstreben jenseits der Zuordnungen im politischen Spektrum Anhänger fand, u.a. auch bei Vertretern anarchosozialistischer Ideen oder heimattümelnd-völkischer und antisemitischer Positionen. Was sie vereinte, war die krisenhafte Erfahrung der Modernisierung: Ihre Phantasien über das Zeitalter antworteten auf die Feststellung, dass bisherige Formen der Daseinsinterpretation untauglich geworden waren. Zu diesen Phantasmagorien zählten, wie Gert Mattenklott es beschrieb, die Vorstellung vom notwendigen radikalen Abbruch des Bisherigen und vom Heraufführen einer neuen Welt, von der Entstehung eines Neuen Menschen, der die Jugend verkörpert, und einer Neuen Gemeinschaft. Charakteristisch für die Lebensreform war auch das Denken in starken Dichotomien wie Licht und Finsternis, Wärme und Kälte, die Angst vor der Animalisierung und die Bevorzugung des Vegetabilischen, die "Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität" (Benjamin).

Die Vorlesung ist Teil des Kursprogramms Science in Perspective: Studierende lernen die Vorläufer heutiger Reformaufrufe mit lebensreformerisch-ökologischem Charakter ("die erde ist der einzige planet mit bier!") in der Generation um 1900 kennen. Manche der damals zentralen Begriffe sind heute nicht mehr bekannt oder sie wurden aufgrund ihrer Instrumentalisierung durch die totalitären Regimes des 20. Jh. desavouiert. Einige der einstigen Inhalte und Zielsetzungen stehen jedoch heute in der Auseinandersetzung um die Zukunft der Gesellschaft, der gesamten Menschheit und des Planeten erneut zur Debatte. Die Historisierung der heutigen Konzepte ist die Bedingung dafür, Entwürfe für eine mögliche Zukunft mit früheren Versuchen und den Erfahrungen daraus abgleichen zu können, den Blick für Alternativen wie für eventuelle Sackgassen zu schärfen und die Diskussionen darüber zu versachlichen.
LiteraturGelesen werden literarische und diskursive Texte u.a. von Gustav Landauer, Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler, Paul Scheerbart, Heinrich u. Julius Hart, Rudolf Steiner, Sebastian Kneipp, Max Bircher-Benner, Theodor Hertzka, Franz Oppenheimer, Ebenezer Howard, Theodor Goecke, Hermann Muthesius, Karl Schmidt-Hellerau, Bruno Taut, Gustav Wyneken, Wassily Kandinsky, Ludwig Klages, Emile Jaques-Dalcroze, Walter Benjamin, Martin Buber, Peter Altenberg, Robert Müller, Christian Kracht, diskutiert werden zudem künstlerische Beiträge etwa von E. M. Lilien u. Fidus (=Hugo Höppener).